Der Film „Monobloc“ ist keine Doku-Stapelware

2023-03-23 16:44:45 By : Mr. Henry Wang

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So lernt der Hund, wie der Mensch den Befehl „Sitz!“ deutet. Bild: Salzgeber

Die ganze Welt kennt diese Sorte Stuhl: Der Film „Monobloc“ ist eine Reise auf einem riesigen Plastikplaneten.

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S itzen ist das neue Rauchen, hieß es zuletzt ab und zu. Menschen tun sich nichts Gutes, wenn sie sitzen, man kann aber auch nicht die ganze Zeit stehen, liegen, gehen oder gar schweben oder sonst eine Trotzhaltung gegen die Schwerkraft einnehmen. Für die alltäglicheren Momente im Leben haben die Menschen Sitzgelegenheiten erfunden. Eine besonders erfolgreiche darunter ist der Monobloc: ein Plastikstuhl aus einem Guss, dessen wichtigste Eigenschaft seine Stapelbarkeit ist.

Man könnte aus Monoblocs einen sehr schiefen Turm bauen und schauen, in welcher Höhe er abbricht, wenn der Wind kommt. Meistens kommt er jedoch in kleineren Mengen vor: allein oder zu zweit vor der Tür eines kleines Ladens in Afrika, zu viert an einem Straßentisch in einem Café in Frankreich, zu sechst oder zu acht in einem Garten, wo man ihn leicht überall hinschleppen kann, wo die Sonne gerade nicht hinbrennt.

Der Monobloc ist einer dieser Gegenstände, die man kaum mehr bemerkt, weil sie so allgegenwärtig sind. Eine Milliarde Exemplare davon soll es geben. Das spricht dafür, ihn nicht länger zu übersehen, sondern ihn sich näher anzusehen – als Zivilisationsobjekt ersten Ranges.

Das ist in etwa die Idee des Dokumentarfilms „Monobloc“ von Hauke Wendler. Ein anderer Titel, irgendein Wortspiel gar, konnte hier nicht in Frage kommen, denn der Gegenstand fällt ja gerade durch seine starken Identitätsaspekte auf: Ein Monobloc ist ein Monoblock, wenngleich von einem Block eigentlich nur insofern die Rede sein kann, als der Plastikstuhl aus einem imaginären Raum herausgeschnitten wird, aus einem Kubus, in den man Polypropylen in sorgfältig proportionierte Fugen hineinlaufen lässt. Der Kunststoff wird dann hart, und man kann sich draufsetzen.

Je billiger die Plastikmischung, desto fragwürdiger das Sitzerlebnis. Ein junger Mann, auf den Hauke Wendler in Deutschland getroffen ist, zerdrischt vor der Kamera einen Stuhl und zeigt damit anschaulich die Grenzen einer Belastbarkeit, für die das Ding allerdings nicht gedacht ist.

Für den Monobloc hat sich noch keine spezielle Connaissance entwickelt, wie für Wein oder teure Sofas, aber so mancher wird sich vielleicht an Exem­plare erinnern, auf denen man nicht eigentlich sicher sitzt, sondern eher das Gefühl hat, sich einer schwimmenden Boje anzuvertrauen. Da hat dann ein Hersteller beim Polypropylen gespart.

Wendler beginnt mit seiner Forschungsreise in einer Fabrik in Italien, einem Familienbetrieb, aus dem seit 1959 Plastikstühle in alle Welt gehen. Die Brüder Proserpio haben das Ding allerdings nicht erfunden, sie haben es nur massenhaft in Umlauf gebracht.

Ein Patent hätte am ehesten ein Franzose anmelden können, der ließ aber die Gelegenheit aus, und so wird heute wild durch die Welt kopiert. In Indien zum Beispiel macht man einen Monobloc mit dem Markennamen Spectrum, dessen Design sich offenkundig an schnittigen KFZ-Kühlerdesigns orientiert. Der Spectrum zählt zu den Grundsitzungsmitteln in einem Land mit bald 1,5 Milliarden Menschen. Hauke Wendler hat auch dort vorbeigeschaut und ist auf eine Unternehmerklasse gestoßen, die mit leuchtenden Augen von einem Riesenmarkt schwärmt. Der Spectrum ist wegen seines Designs dann schon eher „upmarket“, also quasi ein Bentley unter den Plastikstühlen.

Der Monobloc ist „ein Statist“, sagt Wendler einmal. Er bringt für diese Statistenrolle auch ein drastisches Beispiel: selbst in Abu Ghraib, wo amerikanische Soldaten irakische Gefangene folterten und herabwürdigten, diente ein Monobloc als Requisit.

Zumindest in Ansätzen ist Wendler an einer Kulturtheorie des Monoblocs gelegen oder an einer Reflexion von deren Unmöglichkeit, denn es könnte durchaus sein, dass der Stuhl „eine Abwesenheit von Kulturgut“ darstellt. Zwei Damen, die sich in Hamburg zum Thema äußern, denken auf jeden Fall in diese Richtung, und sie zielen auf weitere Vorbehalte: Ist das nicht alles eine ökologische Katastrophe? Bevor Wendler sich diesem Einwand, der eigentlich von Beginn an auf der Hand lag, genauer widmet, muss er aber noch eine positive Geschichte seines Gegenstands versuchen. Er findet sie in Uganda, wo Monoblocs auf Rollstühle montiert werden, die dann an gehbehinderte Menschen verteilt werden.

Aber ist das nicht doch eine Rationalisierung eines (für den Planeten) letztlich untragbaren Gegenstands? Es überrascht, wie wenig Wendler sich mit den ganzen Implikationen der Plastikwirtschaft beschäftigt.

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Er schließt zwar mit einem Kollektiv von Abfallsammlerinnen in Brasilien, bei denen sehr deutlich wird, dass Recycling eine schmutzige (und wohl auch giftige) Angelegenheit ist. Den inzwischen ja sehr prominent und umfänglich gewordenen Plastikdiskurs aber lässt er weitgehend unbeachtet, das Polypropylen hat bei ihm einen Status, als wäre es naturgegeben. Wenn Sitzen das neue Rauchen ist, dann ist Plastik der Teer in der ganzen Sache, also der Schadstoff Nummer eins, das Produkt eines Zeitalters, das man inzwischen gern Anthropozän oder Kapitalozän nennt, das aber auch den Titel Petrolozän verdienen würde. Auf dem Monobloc sind wir alle Päpste dieses Ölzeitalters.

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Dokumentarfilm „Monobloc“ über einen Stuhl, den die ganze Welt kennt

Die ganze Welt kennt diese Sorte Stuhl: Der Film „Monobloc“ ist eine Reise auf einem riesigen Plastikplaneten.

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